Die Sage vom Reußenstein
Auf dem Heimenstein im Neidlinger Tal hauste einst ein Riese. Er hatte ungeheuer viel Gold und hätte herrlich und in Freuden leben können, wenn es noch mehr Riesen und Riesinnen außer ihm gegeben hätte.
Da fiel es ihm ein, er wollte sich ein Schloss bauen, wie es die Ritter haben auf der Alb. Der Felsen gegenüber schien ihm gerade recht dazu.
Er selbst aber war ein schlechter Baumeister. Er grub mit den Nägeln haushohe Felsen aus der Alb und stellte sie aufeinander, aber sie fielen immer wieder ein und wollten kein geschicktes Schloss geben. Da legte er sich auf den Beurener Felsen und rief von dort mit dröhnender Stimme ins Tal hinab: „Ihr Menschenzwerglein, wer von euch arbeiten will, der soll zu mir heraufkommen und mir mein Schloss bauen helfen!“ Da kamen Maurer und Zimmerleute, Steinhauer und Schlosser und nahmen die Arbeit freudig auf. Denn der Riese hatte Gold in Fülle und er versprach reichlichen Lohn.
Bald war das Schloss fertig und schaute stolz vom Reußenstein aus ins Land hinaus. Da kam der Riese und beschaute das Werk. Alles war in schönster Ordnung und gefiel ihm über die Maßen. Nur außen am obersten Fenster hoch oben im Turm fehlte noch ein Nagel. Da sprach er: „Keiner soll seinen Lohn bekommen, ehe der letzte Nagel eingeschlagen ist.“ Aber keiner wagte zu der schwindelnden Höhe hinaufzusteigen und den Nagel einzuschlagen. Schließlich versprach der Riese dem, der es wagte, noch besonders reichen Lohn.
Da war ein armer Schustergeselle aus Neidlingen, der liebte heimlich seines Meisters Tochter; der Meister wollte sie ihm aber nicht geben, weil er ihm nicht reich genug war. Darob brach ihm schier das Herz und das Leben war ihm verleidet. Da gedachte er: „ Du sollst nur den Nagel einschlagen, vielleicht gelingt es dir; stürzt du aber ab, - nun, so ist dein Herzeleid vorüber.“ So meldete er sich denn bei dem Riesen. Und wie dieser den kecken Burschen auf den Turm steigen sah, da hatte er seine herzliche Freude an ihm, packte den Gesellen fest beim Genick und hielt ihn mit Riesenkraft frei in die Luft hinaus, dass diese die Hände frei und gut arbeiten hatte. Und als die Arbeit fertig war, da lobte er den Burschen: „Zwerg, das hast du gut gemacht“, und beschenkte ihn reichlich, sodass er um seines Meisters Tochter werben konnte und sie zur Frau bekam.