Die Sage vom Hirschgulden

Auf der Burg Zollern lebt ein grimmiger, stets mürrischer Graf, der kaum mehr sagt als: weiß schon, dummes Zeug – es sei denn, er flucht, und das tut er oft.

Trotzdem liebt ihn seine Frau Hedwig, die durch ihr freundliches, mildtätiges Wesen vieles wieder gut macht, was sich ihrem Gemahl Schlechtes nachsagen lässt. Als sie ihm einen Sohn schenkt, beachtet er das Kind zunächst wenig, doch im Alter von drei Jahren macht er mit dem kleinen Kuno einen ersten Austritt im Wald.

Der Graf hat den Jungen auf ein eigenes Pferd gesetzt, das er lediglich an den Zügeln hält. Das Pferd geht durch, der Graf hört den Jungen laut weinen und findet schließlich das Pferd ohne Reiter. Er glaubt schon, seinen Sohn nicht lebendig wiederzusehen, da findet er ihn wohlbehalten in den Armen eines alten Weibes. Sie hat ihn gerettet, als er, am Fuß noch im Bügel hängend, von dem durchgegangen Pferd mitgeschleift wurde. Die Alte meint, ein Hirschgulden sei ein angemessener Lohn für ihre gute Tat. Doch der Graf verweigert diesen und will sie mit höhnischen Worten und drei Kupferpfennigen abspeisen. Die Erwiderung der Alten wird zur Prophezeiung: man werde schon noch sehen, was von seinem Erbe einen Hirschgulden Wert sei. Die drei Kupfermünzen schnippt sie in des Grafen Geldsäckel zurück, dem die Alte wegen dieses unerklärlichen Kunststücks fast wie eine Hexe vorkommt.

Nach diesem Zwischenfall erlischt des Grafen Interesse an seinem Sohn völlig, er hält ihn für einen Weichling. Hedwig, die ihrem Mann immer alle Grobheiten verziehen hat, wird darüber vor Kummer krank und stirbt. Kuno wird von seiner Amme und dem Schlosskaplan erzogen. Der Graf verheiratet sich wieder und seine neue Frau bekommt Zwillinge, zwei Söhne. Die sind wild und grob wie ihr Vater und fallen vor allem bei ihrem ersten Ausritt nicht vom Pferd. Kuno wird in seiner Familie endgültig zum Außenseiter und daher freundet er sich mit der alten Frau Feldheimerin an, die ihn damals gerettet hat. Sie erzählt ihm oft von seiner früh verstorbenen Mutter und er lernt von ihr die wunderbarsten Dinge: Mittel für kranke Pferde, eine Lockspeise für Fische und andere nützliche Zaubereien. Kuno achtet nicht auf das Gerede, wonach die Frau Feldheimerin eine Hexe ist – der Schlosskaplan hat ihm versichert, dass es Hexen nicht gibt.

Kunos Stiefmutter bringt ihren Gatten dazu, dass Kuno im Testament arg benachteiligt wird. Als der Graf stirbt, erbt Kuno deshalb nicht die Burg Zollern (die ihm als Erstgeborenen zugestanden hätte und wo auch seine leibliche Mutter begraben liegt) sondern Burg Hirschberg. Einer der Stiefbrüder bekommt Burg Zollern, der andere eine dritte Burg: Schalksburg.

Kuno holt bald den alten Schlosskaplan und die noch ältere Frau Feldheimerin nach Hirschberg, zu seiner Gesellschaft und damit sie dort auf angenehme Weise ihren Lebensabend verbringen können. Stiefmutter und Stiefbrüder hoffen auf das baldige Ableben von Kuno, damit sie an dessen Erbteil und vor allem an den wertvollen Schmuck seiner Mutter kommen. Kuno unternimmt indessen mehrere Versuche, normale verwandtschaftliche Beziehungen herzustellen, wird aber immer wieder enttäuscht. Als ihm zu Ohren kommt, die Stiefbrüder hätten verabredet, im Falle seines Ablebens Freudeschüsse aus ihren Kanonen abzufeuern, macht er die Probe und lässt seinen Tod vermelden. Die prompt einsetzenden Böller zerreißen das letzte Band zur Familie seines Vaters.

Bald darauf sterben seine alten Freunde, der Schlosskaplan und Frau Feldheimerin. Ihm selbst ist nur ein kurzes Leben beschieden – er stirbt mit nur achtundzwanzig Jahren. Zuvor jedoch hat er seine Angelegenheiten auf eine Weise geregelt, mit der die gierige Verwandtschaft nicht gerechnet hat: sein Land, zu dem die Stadt Balingen und die Burg gehört, hat er an Württemberg verkauft. Für nur einen Hirschgulden. Das ist alles, was es zu erben gibt, denn der Schmuck seiner Mutter, wird nach seinem Willen dafür verwendet, in Balingen ein Armenhaus zu bauen.

Ein Märchen von Wilhelm Hauff